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"Ich bin unendlich dankbar, dass ich für die sprechen kann, die nicht sprechen können"

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100 Jahre und kein bisschen leise. Die Berliner Holocaustüberlebende Margot Freidländer berichtete im Gespräch mit der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten Sabine Leutheusser Schnarrenberger aus ihrem bewegten Leben und Überlebem im Nationalsozialismus, ihrer späten Rückkehr nach Berlin und ihrem unermüdlichen Einsatz für zuversichtliche Menschlichkeit und Miteinander, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Das Gespräch moderierte Staatssekretär Mark Speich.

Staatssekretär Mark Speich begrüßte die Gäste in der Landesvertretung zu einem besonderen Abend mit der 101jährigen Holocaustüberlebenden Margot Friedländer und der nordrhein-westfälischen Antisemitismusbeauftragten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Ein Abend, der nicht nur an die Feierlichkeiten zu 1.700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland aus den letzten Jahr anknüpft, sondern den Bogen aus der Vergangenheit in die Zukunft weist. Friedländer und Leutheusser-Schnarrenberger haben kürzlich das Buch „Ich tue es für euch“ veröffentlicht, ein verschriftliches Gespräch im Gedenken an den Holocaust und mit einem Appell zu einem offenen, vorurteilsfreien Miteinander in einer vielfältigen Gesellschaft. Obwohl im Zeichen der Shoa stehend, verbreitet das Buch Zuversicht und Menschenfreundlichkeit. In einer Zeit, in der Erinnerung maßgeblich mit bildlichen Motiven verknüpft ist, verstärkt sich das Problem, dass Holocaustbilder oft aus der Sicht der Täter erzeugt wurden. Umso wichtiger, so Speich, ist es, wichtige Zeitzeugen zu hören und zu erleben, ihr Zeugnis dauerhaft hörbar zu machen und weiter ein feines Gehör für diese Stimmen zu haben. Beunruhigende und steigende Zahle bei Straftaten, neue und vielfältige Formen des Antisemitismus machen deutlich, wie wichtig es ist, das Thema wach zu halten.
 
Gefragt, woher sie die Zuversicht und den Optimismus nehme, erinnerte sich Margot Friedländer an ihre Erlebnisse in Berlin in der schweren Zeit. Sie wies auf Deutsche, die ihr halfen und nicht wegguckten und sie retten wollten, als sie sie untertauchte und sich versteckte. Sie glaubt, dass in jedem Menschen etwas Gutes steckt. Nach 64 Jahren im Ausland ist sie mit Ende Achtzig nach Berlin zurückgekehrt, kannte zunächst niemanden und hat nun mehr einen riesengroßen Freundeskreis. Sie gibt niemandem die Schuld und fragt nicht, was die Eltern oder Großeltern ihrer Bekannten damals gemacht haben. Aber: Was war, ist gewesen, doch es darf nie wieder geschehen.

Friedländer erzählt dem Publikum von ihrer „ganz normalen, netten Kindheit“ in Berlin im Kreise einer großen Familie mit Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten und vielen Kindern. Doch zu kurz war diese Kindheit. Als sie zwölf war, kam Hitler an die Macht. Mehrere Fluchtpläne führten zu nichts. Der Vater verlor in der Reichspogromnacht sein Geschäft. Fünf Jahre später, am 20. Januar 1943, sah sie ihre Mutter und ihren Bruder Ralph zum letzten mal. Sie wurden abgeholt in und Auschwitz ermordet. Sie selbst rettete sich, verbarg ihren gelben Judenstern, der den sie heute dem Publikum zeigt, vor verdächtig aussehenden Männern und hat von damals allein die Bernsteinkette ihrer Mutter behalten. Sie trägt sie auch an diesem Abend in der Landesvertretung. Ihre Mutter hatte noch eine mündliche Nachricht bei Bekannten hinterlassen: „Ich gehe mit Ralph, wo immer das auch sein mag. Versuche, Dein Leben zu machen.“ Diese Worte wurden ihr Motto. Versuche dein Leben zu machen.
 
Für Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist es wichtig, um die Geschichte zu wissen und Schlüsse daraus für heute zu ziehen. Wenn Überlebende erzählen aus ihren unmittelbaren Erleben, jene, die Opfer waren, verfolgt wurden, den Stern trugen und ausgesondert wurden, dann ist dieses Erzählen eine ganz andere Form von Ansprache als der normale Geschichtsunterricht. 40 Prozent der jungen Menschen, so Leutheusser-Schnarrenberger, wissen heute nicht, was Auschwitz war und bedeutet. Der zunehmenden Zahl antisemitisch motivierter Straftaten, Volksverhetzung, Beleidigung, ja Körperverletzung und Ermordungen kann man nicht aber nur mit Erinnerungskultur begegnen.

Aus dem Publikum kam ein guter Hinweis auf die Initiative „Zweitzeugen“, einem Verein in der nordrhein-westfälischen Stadt Bünde. „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden“, sagte einmal Elie Wiesel. Die Initiative Zweitzeugen dokumentiert (Über)Lebensgeschichten des Holocaust, um sie nachfolgenden Generationen als Zweit-Zeugen weiterzuerzählen. Diese berichten dann von diesen eindrucksvollen und mutigen Geschichten, wenn die eigentlichen Zeitzeugen selbst nicht mehr können. Analoge wie digitale Bildungsprojekten, Ausstellungen, Veranstaltungen und Veröffentlichungen ermöglichen vor allem Kindern und Jugendlichen ab dem zehnten Lebensjahr einen persönlichen Zugang zum zunächst abstrakten Thema Holocaust. Das sensibilisiert auch für das Thema Antisemitismus. Zweitzeugen stellen sich der Verantwortung für Demokratie und Vielfalt in unserer Gesellschaft.

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